„Auch Kinder mit Lernstörungen können alles erreichen“
Katharina Galuschka erklärt, wie Schwierigkeiten beim Lesen erkannt und gelöst werden können – und warum Reime helfen
Katharina Galuschka ist Doktor der Humanbiologie an der LMU München (Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie). Sie beschäftigt sich u.a. mit der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- oder Rechtschreibstörungen. Sie erforscht, wie sich Lernstörungen diagnostizieren und Leseleistungen steigern lassen. Darüber sprach sie mit Redakteurin Tanja Beetz.
„Viele entwickeln eine Abwehrhaltung“
Wie erkennt man eine Lese-Rechtschreibschwäche bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen?
Bei Kindern können sich Probleme bereits in den ersten Wochen des Leseunterrichts zeigen. Betroffene zeigen meist große Unsicherheiten bei der Buchstaben- und Lautunterscheidung und haben Schwierigkeiten beim Einprägen der Buchstabe-Laut-Beziehungen. Dadurch lesen die Kinder häufig sehr stockend und fehlerhaft. Häufig nennen die Kinder einfach den ersten Buchstaben und raten das Wort, lassen Wortteile aus oder ersetzen sie durch andere.
Zu Beginn des Leseerwerbs zeigen alle Kinder diese Verhaltensweisen. Während die meisten Kinder aber schnell Fortschritte machen, bleiben diese Probleme bei Kindern mit Leseschwächen länger bestehen. Ungefähr ab dem 2. bis 3. Schuljahr sind Leseschwierigkeiten eher durch ein extrem langsames Lesen gekennzeichnet. Schnelles, automatisiertes Lesen stellt eine große Hürde für Betroffene dar und meist bleiben Schwierigkeiten bis ins Erwachsenenalter bestehen. Durch das extrem langsame Lesen wird häufig das Leseverständnis erschwert. Aus dem Gelesenen können nur mit sehr viel mehr Arbeitseinsatz Zusammenhänge erkannt werden. Viele Menschen mit Leseschwierigkeiten vermeiden deshalb das Lesen und entwickeln eine Abwehrhaltung gegen alles Schriftliche.
Bei der Rechtschreibschwäche ist häufig das Erlernen und Einprägen der Laut-Buchstabe-Beziehungen verzögert. Im weiteren Verlauf der Schriftsprachentwicklung werden Betroffene vor allem durch eine hohe Anzahl an Rechtschreibfehlern auffällig.
„Probleme beeinflussen auch die Berufswahl“
Welchen Einfluss haben solche Schwierigkeiten auf das Lernen?
Einen großen! Gelernt wird in der Regel mittels Texten und Hefteinträgen und dadurch werden die Leistungen von Betroffenen zumeist in allen Schulfächern durch die Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten beeinflusst. Betroffene Kinder benötigen sehr viel mehr Zeit und Anstrengung, um sich Inhalte anzueignen, da bereits das Lesen selbst eine große Schwierigkeit darstellt. Das Lesen wird deshalb häufig vermieden, was sich natürlich negativ auf den Lernerfolg auswirkt.
Im Bereich Rechtschreiben ist es leider so, dass viele Fehler in Texten den Leser dazu verleiten, auch den Inhalt geringzuschätzen. Außerdem wählen viele Betroffene auch ihre Wortwahl für schriftliche Arbeiten nach den Wörtern aus, die sie sich zutrauen, richtig zu schreiben, was natürlich die Qualität schriftlicher Arbeiten beeinträchtigen kann.
Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten enden nicht mit der Schulzeit, sie begleiten Betroffene meist ihr Leben lang. Sie beeinflussen auch die Berufswahl und das Selbstkonzept der Betroffenen. Bei Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen werden deshalb als Reaktion auf andauernde schulische Misserfolge vermehrt soziale Ängste, Schulangst und depressive Symptome beobachtet.
Die gleichen Lernerfolge sind häufig nur mit sehr viel mehr Anstrengungsbereitschaft zu erzielen. Dennoch bedeutet eine Lese-Rechtschreib-Schwäche nicht, dass Schulerfolge oder bestimmte Berufsziele unerreichbar sind. Werden die Probleme im Unterricht berücksichtigt, erhalten die Betroffenen eine bedarfsgerechte Unterstützung. Ist auch von dem Betroffenen selbst genügend Motivation vorhanden, können auch Kinder mit Lernstörungen alles erreichen.
Förderung kostet viel Geld
Eine bedarfsgerechte Unterstützung und Förderung ist aber gerade das Problem. Eine Lese-Rechtschreib-Förderung von einem gut ausgebildeten Lerntherapeuten wird nicht von den Krankenkassen übernommen und kostet viel Geld. Eine Kostenübernahme muss erst beim Jugendamt beantragt werden und wird bei drohender seelischer Behinderung gewährt. Deshalb würde ich sagen, Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche aus gut situierten Familien können alles erreichen, genauso wie ihre nicht betroffenen Klassenkameraden auch.
Auch aus diesem Grunde richtet sich die Forschung meiner Kollegen und mir verstärkt auf den Einsatz einer schulischen Förderung, wie sie im Response-to-Intervention-Ansatz angedacht ist. Dieses Modell konzentriert sich mit Beginn der Regelbeschulung auf die Überprüfung des Lernverlaufs aller Kinder, um Kinder mit Verzögerungen im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen zu erkennen. Bleiben einige Schüler trotz hoher Unterrichtsstandards in ihren Lese-Rechtschreib- oder Rechenleistungen deutlich zurück, so erhalten diese gesonderten, strukturierten Förderunterricht zumeist in Kleingruppen. Kinder, die von dieser Maßnahme nicht profitieren können, gelten aufgrund des erwartungswidrigen Ansprechens auf Förderung als Kinder mit Lernstörung. Diese erhalten eine spezifische, systematische Intervention zumeist im Einzelsetting.
Dieses Modell bietet nicht nur die Möglichkeit, eine qualitativ hochwertige Förderung für alle Kinder bereitzustellen, sondern führt auch zu einer Anwendung hoher Unterrichtsstandards und einer frühzeitigen Identifikation von Kindern mit Lernstörungen.
„Störungen werden sehr viel häufiger erkannt“
Kommen Lernstörungen heute häufiger vor als früher? Welchen Einfluss hat die zunehmende Nutzung digitaler Medien?
Lese-Rechtschreib-Störungen haben eine genetische Verursachungskomponente und biologische Ursachen. Sie kommen vermutlich nicht häufiger vor als früher, werden jedoch sehr viel häufiger erkannt.
Dass Kurznachrichten, Messenger etc. unsere Lese- und Schreibgewohnheiten verändern, ist unumstritten. Eindeutige Anhaltspunkte dafür, dass Whatsapp und Co. auch die Lese-Rechtschreib-Fähigkeiten negativ beeinflussen, gibt es meines Wissens nicht. Für Betroffene mit Lese-Rechtschreib-Schwäche birgt natürlich dieser hohe Stellenwert schriftlicher Kommunikation im sozialen Miteinander gewisse Schwierigkeiten und weiteres Potential für eine soziale Isolation. Sie kann aber auch vereinzelt motivierend wirken, eine Förderung durchzuhalten und sich immer weiter zu bemühen, eine alltagstaugliche Lese-Rechtschreib-Fähigkeit zu erreichen.
Unleserliche Handschrift als „Schutz“
Wie erkenne ich eine Lernstörung – als Eltern, Lehrer, Ausbilder?
Erste Anzeichen beim Lesen sind eine niedrige Lesegeschwindigkeit, häufiges Stocken, Verlieren der Zeile im Text, aber auch das Auslassen, Vertauschen oder Hinzufügen von Wörtern, Silben oder einzelnen Buchstaben. Später wird häufig ein extrem verlangsamtes Lesen auffällig. Beim lauten Lesen wird oft nicht sinnhaft betont und das Gelesene kann nur unzureichend wiedergegeben werden. Bei Fragen zum Inhalt wird oft eher allgemeines Wissen verwendet, anstatt die Informationen aus dem Gelesenen zu nutzen.
Beim Schreiben fällt eine hohe Anzahl an Rechtschreibfehlern auf. Wörter werden teilweise nur in Bruchstücken und im selben Text mehrfach unterschiedlich falsch geschrieben. Oft gehen die Probleme mit einer unleserlichen Handschrift einher, die häufig auch gezielt zum Verbergen von Rechtschreibfehlern eingesetzt wird.
Beim Rechnen können die Probleme schon im Vorschulalter auffallen. Betroffene zeigen Schwierigkeiten in der Zuordnung von Mengen und Verhältnisangaben wie „mehr, weniger, kleiner, größer“ und die Zählfertigkeiten können beeinträchtigt sein. Im Grundschulalter äußern sich zusätzlich noch Probleme beim Benennen und Schreiben von Zahlen und Schwierigkeiten im grundsätzlichen Verständnis von Rechenschritten. Rechenaufgaben werden erheblich langsamer und dauerhaft nur mit Abzählen an den Fingern gelöst. Ältere Kinder oder Jugendliche beherrschen unter Umständen die Grundrechenarten, benötigen jedoch sehr viel Zeit dafür.
Viele Kinder versuchen, ihre Schwierigkeiten zu verbergen und entwickeln aufwendige Kompensationsstrategien. Einige Kinder lernen ganze angekündigte Diktate, Lesetexte oder Rechenaufgaben auswendig und schaffen es so, manchmal sogar über mehrere Jahrgangsstufen hinweg nicht aufzufallen.
Wissen aufbauen und automatisieren
Die Politik unterstützt die Alphabetisierungskampagnen für Erwachsene – 7.5 Mio. Deutsche gelten als funktionale Analphabeten. Wie kann man Erwachsenen mit Lese- und Lernstörungen helfen?
Erwachsenen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten helfen die gleichen Förderinhalte wie auch Kindern. Es gilt immer zu bestimmen, in welchen Bereichen des Lesens und Schreibens Schwierigkeiten vorhanden sind. Sind große Probleme in der Lesegenauigkeit zu beobachten, also werden viele Lesefehler gemacht, dann ist dies ein Hinweis darauf, dass Buchstabe-Laut-Verbindungen noch nicht ausreichend verinnerlicht wurden. Eine Förderung sollte sich demnach speziell darauf konzentrieren, Wissen über Buchstabe-Laut-Korrespondenzen aufzubauen und zu automatisieren.
Bei Problemen in der Lesegeschwindigkeit (wie meistens bei Erwachsenen) sollte sich eher darauf konzentriert werden, schnelleres, flüssigeres Lesen zu ermöglichen. Dies kann durch Übungen gelingen, in welchen Wörter in Silben oder Morpheme unterteilt sind, die zusammenhängend gelesen werden müssen. Die Rechtschreibfähigkeit lässt sich gut durch Rechtschreibregeltrainings aufbauen. Betroffene erwerben hier Wissen über die Regelmäßigkeiten unserer Orthografie und lernen Strategien, um die eigene Schreibweise zu überprüfen.
Viele Programme sind nicht überprüft
Lernt man leichter durch „echtes“ Lesen und Schreiben (Beispiel Vokalbelheft) als mit Lernplattformen und -spielen im Web? Oder kommt es da eher auf den persönlichen Lerntyp an?
Lernplattformen und Lernspiele am Computer können durchaus sinnvoll und eine gute Ergänzung für eine professionelle Lerntherapie sein. Sie bieten eine Menge Möglichkeiten, das Lernen zu erleichtern und Lese-Rechtschreib-Fähigkeiten aufzubauen. Das Problem ist leider nur, dass viele Angebote weder auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauen noch auf ihre Wirksamkeit überprüft sind. Deshalb gilt es, die Programme gut auszuwählen und darauf zu achten, dass sie beispielsweise von renommierten Wissenschaftlern entwickelt und evaluiert wurden.
Grundsätzlich bergen digitale Medien eine große Ressource, Kinder, Jugendliche, Erwachsene wie Familien mit qualitätvollen Informations- und Lernmaterial flächendeckend zu erreichen. Ich halte es nicht für sinnvoll, die Angebote im Internet, Computer oder auch im Fernsehen zu verteufeln, stattdessen sollten wir uns lieber bemühen, die Plattformen mit sinnvollen Optionen zu füllen.
„Ich kann immer noch ganze Passagen auswendig“
Warum ist es wichtig, kleinen Kindern vorzulesen? Können Sie sich an Ihr „erstes“ Buch erinnern?
Das Vorlesen fördert die Lautwahrnehmung, steigert den Wortschatz, und wirkt sich positiv auf das Sprachverständnis aus. Das Vorlesen kann Freude an Sprache und Literatur vermitteln und dadurch kann sicher bereits eine erste Vertrautheit mit der Schrift ergeben. Es bedingt somit zahlreiche Vorläuferfähigkeiten des Lesens und Rechtschreibens positiv und kann sich demnach auch positiv auf die Schriftsprachentwicklung der Kinder auswirken.
An mein erstes Buch kann ich mich nicht erinnern, wohl aber an mein Lieblingsbuch im Kindergartenalter: „Es klopft bei Wanja in der Nacht“. Ich kann immer noch ganze Passagen auswendig. „Weit fort in einem kalten Land, steht Wanjas Haus am Waldesrand. In langen Zapfen hängt das Eis und ringsumher ist alles weiß“.
In diesem Buch klopfen in einer bitterkalten Nacht mit Schneesturm erst ein Hase, dann ein Fuchs und schließlich ein Bär an Wanjas Tür. Er bittet sie herein und die vier verbringen eine friedliche Nacht gemeinsam in Wanjas warmer Stube. Im Nachhinein nicht nur eine schöne Geschichte, die Erzählweise in Reimen kann Kindern den Einblick in die Sprachstruktur erleichtern und sich positiv auf Reimbewusstheit und Lautwahrnehmung auswirken.
Der Zuhörende erzählt mit
Wie unterschiedlich werden Geschichten von Kindern wahrgenommen, wenn sie erzählt und wenn sie z.B. im Fernsehen gesehen werden? Beim Erzählen kann ja die eigene Fantasie „eingreifen“ und das Entstehen zu gruseliger Bilder verhindern, während man vor der Mattscheibe keinen Einfluss darauf hat.
Ich denke, in der Art, wie Geschichten wahrgenommen werden, wenn diese erzählt werden, steckt viel mehr vom Zuhörenden selbst.
Darauf achten, was Kinder im TV ansehen
Gibt es Anhaltspunkte für den „richtigen“ zeitlichen Fernsehkonsum von Kindern (und Erwachsenen)?
Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Ich kenne keine eindeutigen Forschungsbefunde, die einen maximalen Fernsehkonsum klar belegen würden. Vom Familienministerium gibt es die Empfehlung, dass Kinder zwischen 3 und 5 Jahren nicht mehr als 30 Minuten, Kinder zwischen 6 und 9 Jahren nicht mehr als 45 Minuten und Kinder ab 10 Jahren nicht mehr als 60 Minuten pro Tag fernsehen sollten.
Ich halte es für sehr wichtig, Kindern einen angemessenen Umgang mit dem Fernseher beizubringen und darauf zu achten, was die Kinder ansehen. Um zu erfahren, wie das Gesehene von den Kindern wahrgenommen wird oder warum eine bestimmte Sendung favorisiert wird, sollte mit den Kindern darüber gesprochen werden. Es gibt sehr gute Programme, die bildend, informativ oder auch einfach nur unterhaltend sein können und den Kindern sehr viel Spaß machen.
Dennoch, derzeit wird durchschnittlich circa 3,5 Stunden pro Tag ferngesehen. Als Erwachsene haben wir eine Vorbildfunktion und sollten Kindern wenigstens die Möglichkeit aufzeigen, dass es statt sehr viel Zeit in völliger Passivität vor dem Fernseher zu verbringen, auch die Möglichkeit gibt, sich mit der Gestaltung des eigenen Lebens zu befassen.
„Ich genieße jede Seite“
Lernen und Lesen ist Ihr Forschungsgebiet. Welches Buch lesen Sie gerade?
Ich lese gerade „Das Rosie-Projekt“ von Graeme Simson. Ich finde es sehr unterhaltsam und genieße jede Seite.
Ich finde, gute Bücher erkennt man daran, dass sie einen begleiten und nachhaltig prägen. Zu meinen Lieblingsbüchern gehört deshalb „Die Straße der Ölsardinen“ von John Steinbeck und „Stoner“ von John Williams.
Quelle: wochenanzeiger-muenchen.de